ISO 690 | Häller, B., S., Wie konnte es so weit kommen ? Täterschaft im Unterricht zum Thema « Holocaust », Didactica Historica, 2017/3 (Vol.13), p. 129–133. DOI: 10.33055/DIDACTICAHISTORICA.2017.003.01.129 URL: https://libreo.ch/revues/didactica-historica/2017/didactica-historica-3-2017/wie-konnte-es-so-weit-kommen-taeterschaft-im-unterricht-zum-thema-holocaust |
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MLA | Häller, B., S. Wie konnte es so weit kommen ? Täterschaft im Unterricht zum Thema « Holocaust », Didactica Historica, Vol. 13, no. 3, 2017, pp. 129–133. |
APA | Häller, B., S. (2017), Wie konnte es so weit kommen ? Täterschaft im Unterricht zum Thema « Holocaust », Didactica Historica, 13, no. 3, 129–133. https://doi.org/10.33055/DIDACTICAHISTORICA.2017.003.01.129 |
NLM | Häller, B., S.Wie konnte es so weit kommen ? Täterschaft im Unterricht zum Thema « Holocaust ». Didactica Historica. 2017; 13 (3): 129–133. |
DOI | https://doi.org/10.33055/DIDACTICAHISTORICA.2017.003.01.129 |
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Wie konnte es so weit kommen ? Täterschaft im Unterricht zum Thema « Holocaust »
Résumé
While discussing the nazi regime’s crimes in the class room, for quite some time the emphasis is with the victims perspective. The students, however, are almost without exception intrigued with the question why, in the first place, a crime as horrific as the holocaust has been possible. It is obvious that the victim-focussed approach is illsuited to answer this specific question. In order to do so, it is thus required to take a look at the perpetrators perspective. The present article tries to outline how this might be achieved.
Wo und wann immer man mit jungen Menschen auf die NS-Verbrechen und insbesondere auf den Holocaust zu sprechen kommt, steht bald die Frage im Raum, wie es so weit kommen konnte, dass derartige Verbrechen im aufgeklärten Europa des 20. Jahrhunderts geschahen. Wie war es möglich, dass Menschen ihre Nachbarn umbrachten, zusahen, wie diese deportiert wurden, und bei öffentlichen Versteigerungen deren Habseligkeiten ersteigerten oder in ihren Betrieben ausgemergelte Häftlinge aus Konzentrationslagern arbeiten liessen ? Wie war es möglich, dass Krankenschwestern in Euthanasieanstalten tödliche Medikamente verabreichten, dass Menschen Massaker planten, deren Durchführung organisierten und befahlen ? Ganz allgemein : Was bringt Menschen dazu, Grausamkeiten, die durch nichts zu rechtfertigen sind, zu planen, zu organisieren und zu begehen ?
Ein Blick in die aktuell in der Schweiz verwendeten Lehrmittel zeigt, dass die Frage auch heute noch kaum thematisiert wird. Dies obwohl Theodor W. Adorno bereits in den 1960er-Jahren darauf hinwies, dass der Holocaust nur über die Auseinandersetzung mit den Tätern und nicht mit den Opfern zu verstehen sei1. Der Umstand, dass das Thema auch heute noch kaum eines ist, hängt damit zusammen, dass sich die geschichtswissenschaftliche Forschung mit der Täterfrage lange Zeit schwertat2. Im frühen Täterdiskurs (bis Anfang der 1960er-Jahre) wurde der Holocaust entweder nicht zur Kenntnis genommen oder geleugnet. Jedenfalls war es undenkbar, an der Anständigkeit der deutschen Polizisten und Offiziere zu zweifeln. Nach damaliger Lesart beschränkte sich die Täterschaft auf eine kleine Gruppe krimineller und psychisch auffälliger Exzesstäter und dämonische Führungspersonen3. Ab den 1960er-Jahren bis Ende der 1980er-Jahre dominierte die Entpersonalisierung und Abstrahierung den Diskurs. Der Holocaust wurde als Automatismus ohne Menschen beschrieben, angetrieben von abstrakten Strukturen und Institutionen. Die Rede war von industrieller, bürokratischer und anonymer Vernichtung in Todesfabriken4.
Zu Beginn der 1990er-Jahren erhielt die Täterforschung mit der Arbeit von Christopher Browning einen wichtigen Impuls. Am Beispiel eines Massakers in Polen zeigte Browning, dass es sich bei den Mördern entgegen bisheriger Interpretationen nicht um eine Negativauslese der deutschen Gesellschaft, sondern um ganz « normale Männer » handelte5. Zusammen mit der Wehrmachtausstellung und einer umstrittenen Studie von Daniel Goldhagen6 löste die Publikation nicht nur in Fachkreisen, sondern auch in der Öffentlichkeit heftige Diskussionen aus und regte unzählige weitere Untersuchungen an7. Dabei kam es zunächst zu einer Konzentration auf die nationalsozialistische Weltanschauungselite8, wohingegen sich die jüngere Forschung zunehmend auf die Direkttäter und die Angehörigen der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten konzentrierte. Hinzu kamen die Frauen, die ausländischen Täter9 und die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Verantwortung der Zivilgesellschaft.
Die sich daran anschliessende Suche nach besonderen Tätermerkmalen zeigte bald, dass es keine gab. Keine Generation und keine soziale Gruppe waren gegenüber den NS-Verbrechen immun10, auch das Geschlecht begründet keine Unterscheidung. Frauen scheinen genau wie Männer zu quälen und zu töten, wenn sie Gelegenheit dazu haben11. Offenbar, so zeigten weitere Untersuchungen, waren aber die weltanschauliche Erziehung und die Entgrenzung des Handlungsspielraums wesentliche Voraussetzungen für die Verbrechen12. In den letzten Jahren rückten zudem situative und sozialpsychologische Aspekte in den Fokus. So zeigten verschiedene Untersuchungen, dass Kameradschaft, Gruppendruck und die Kriegssituation wichtige Voraussetzungen der Massenverbrechen waren. Einen viel beachteten Beitrag leistete jüngst Harald Welzer13. Er zeigte, wie es durch die Ver-schiebung des Referenzrahmens dem Einzelnen möglich wurde, sich am Holocaust und anderen Verbrechen zu beteiligen. Welzer argumentierte, dass sich die Moralvorstellungen der Mehrheits-gesellschaft dergestalt veränderten, dass das Töten von Juden und anderen aus der Volksgemeinschaft Ausgeschlossenen nicht nur möglich, sondern sogar sinnvoll wurde. Er kommt zum Schluss, dass die Situation « viel entscheidender [ist] für das, was Menschen tun » als Persönlichkeitsmerkmale14.
Die Ausweitung des Täterdiskurses von einer kleinen Gruppe in den 1980er-Jahren bis mitunter hin zur ganzen Gesellschaft in jüngerer Zeit verweist auf eine Problematik in der Täterforschung, die bis heute nicht aufgelöst werden konnte: Es ist derzeit kaum mehr möglich, Täter und Täterinnen trennscharf vom Rest der Gesellschaft abzugrenzen. Entsprechend dürfte es künftig darum gehen, den Holocaust und mit ihm möglicherweise auch andere Genozide als gesamtgesellschaftliches Versagen zu diskutieren15. Deshalb verzichtet der vorliegende Beitrag auf eine Definition des Täterbegriffs. Die Diskussion des Begriffs soll aber zusammen mit den anderen oben besprochenen Erkenntnissen im Unterricht aufgegriffen werden. Im Folgenden wird kurz skizziert, wie das Thema im Unterricht angegangen werden könnte.
Eine Unterrichtsskizze
Ein Blick in einige aktuell in der Schweiz verwendete Lehrmittel zeigt, dass die Täterfrage eine untergeordnete Rolle spielt und die Erkenntnisse der 1990er-Jahre in den Schulbüchern bisher wenig Widerhall gefunden haben16. Wie in der frühen Täterforschung tendieren die Lehrmittel zur Distanzierung von der Täterschaft, indem insbesondere im Unterschied zu den Mitgliedern des Widerstands kaum näher zu erfahren ist, wer die Täter und Täterinnen waren. Wenn Täterinnen und Täter erwähnt werden, sind es in erster Linie Hitler und die SS, die die fabrikmässige Vernichtung aller Juden in Vernichtungslagern durchführten, oder Kriminelle wie beim Pogrom von Kowno17. Einzig das etwas jüngere Lehrmittel aus dem Cornelsen Verlag verweist auf die Normalität allerdings nur eines Teils der an den Verbrechen Beteiligten18. Die Täterinnen und Täter bleiben aber auch hier, im Unterschied etwa zu den Angehörigen des Widerstandes19, gesichts- und konturlos, sodass es schwerfällt, die Ungeheuerlichkeit des Geschehens auch nur annähernd zu erfassen.
Im Folgenden wird in Anlehnung an einen Beitrag von Annette Hettinger20 ein Unterrichtsvorschlag zum Thema « Täterschaft » skizziert. Analog zur Beschäftigung mit den Opfern der NS-Verbrechen soll bei der Thematisierung der Täterschaft mit dem biografischen Ansatz gearbeitet werden, weil über den biografischen Einzelfall der Zugang zu einem (anscheinend) fremden, zumindest aber zeitlich fernen Alltag einfacher zu leisten ist. Zudem sind Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale der Protagonisten wesentlich einfacher nachzuvollziehen. Dabei geht es keinesfalls darum, « das Handeln als entschuldbar zu ‚verstehen‘, sondern nur in rationaler Weise nachzuvollziehen und Beweggründe und Handlungsspielraume abzuwägen »21. Es soll die Frage gestellt werden, wie diese Menschen dazu kamen, sich auf ihre je unterschiedliche Weise an den NS-Verbrechen zu beteiligen, und welche Handlungsalternativen sie hatten, um die dahinter stehenden Mechanismen zu erkennen. Damit zielt die Arbeit mit den lebensgeschichtlichen Darstellungen darauf ab, die psychische Fähigkeit des Menschen, solche Grausamkeiten zu begehen, zu erklären und dies zum Inhalt des historischen Lernens zu machen. Ideal wäre es, anhand einzelner Biografien den Weg einer Person hin zum verbrecherischen Handeln nachzuzeichnen. Das ist aber aus zweierlei Gründen nicht machbar. Zum einen fehlen die Biografien von Täterinnen und Tätern, anhand derer der Weg detailliert nachgezeichnet werden könnte. Zum anderen würde dies den im Unterricht zur Verfügung stehenden zeitlichen Rahmen sprengen. Stattdessen, so der Vorschlag, kann im Unterricht auf Kleinstausschnitte aus Biografien zurückgegriffen werden, die konkrete Handlungssituationen von Personen zeigen. Wichtig ist dabei, dass die Ausschnitte auf die Normalität resp. die Durchschnittlichkeit der dargestellten Personen verweisen, sie also in einer alltäglichen Situation zeigen. Gleichzeitig muss der Ausschnitt aber in geeigneter Form auf die Brutalität verweisen22. Hierzu kann z. B. auf Bilder von Judenauktionen zurückgegriffen werden, wie sie teilweise bereits in den gängigen Lehrmitteln anzutreffen sind. Bekannt sind beispielsweise die Fotografien von Lörrach, die grosse Menschentrauben vor Häusern ehemals jüdischer Besitzer auf die Auktion wartend zeigen23. Bekannt sind auch Inserate in Zeitungen von Arisierungen der Geschäfte24. Bisher in keinem Lehrmittel sind die Bilder aus dem sogenannten Höcker-Album25 zu finden, das Angestellte aus dem Konzentrationslager Auschwitz in ihrer Freizeit zeigt. Im hier behandelten Zusammenhang sind diese Bilder besonders aussagekräftig, weil sie einen Teil des Personals von Auschwitz in einer völlig entspannten, durchschnittlichen, normalen und menschlich absolut alltäglichen Situation zeigen. Gleichzeitig verweist das Bild bedingt durch den Kontext der Aufnahme auf die unglaubliche Brutalität, die in der abgebildeten Normalität steckt.
Die Auswahl der höchst unterschiedlichen Ausschnitte aus menschlichen Biografien verweist auf einen weiteren wichtigen Punkt bei der Arbeit mit der Täterschaft, nämlich die Exemplarität. Exemplarität meint, dass sich in der Person und deren Handeln übergeordnete historische Entwicklungen und Strukturen abbilden26. Die oben genannten biografischen Ausschnitte verweisen auf unterschiedliche Tätertypen, wie sie die Täterforschung herausgearbeitet hat27. In diesem Zusammenhang soll daher versucht werden, die gezeigten Personen den einzelnen Tätertypen zuzuordnen. Es ist offensichtlich, dass die Personen oftmals nicht eindeutig kategorisiert werden können. Demnach stellt sich auch die grundlegende Frage nach der Täterschaft, also die Frage wer überhaupt als Täterin oder Täter zu gelten hat. An diesem Punkt ist die weiter oben umrissene Frage nach der Schwierigkeit, den Täterbegriff zu definieren, anschlussfähig und soll im Unterricht diskutiert werden.
Abschliessend wird der Versuch unternommen zu erklären, wie es möglich wurde, dass diese normalen Menschen derartige Verbrechen begehen konnten. Selbstverständlich muss im Klas-senraum betont werden, dass es sich um einen Erklärungsversuch handelt, einen mit hoher Plausibilität allerdings, der aber gut und gerne von der Forschung wieder in Frage gestellt werden kann.
In diesem Zusammenhang wird der Begriff der Volksgemeinschaft28 zentral. Während für die Angehörigen der Volksgemeinschaft unterein-ander die gleichen moralischen Werte galten wie vor dem Dritten Reich, änderte sich dies für die Ausgeschlossenen über die Jahre fundamental. Es war nach wie vor Usus, einer alten Frau den Platz in der Strassenbahn frei zu machen. Dies galt allerdings nur, solange es sich bei der alten Frau nicht um eine Jüdin oder um eine Angehö-rige einer anderen, nicht mehr der Volksgemeinschaft zugerechneten Gruppe handelte. Durch die weltanschauliche Erziehung, die Kriegssituation, die Kameradschaft, die Entgrenzung des Handlungsspielraums und den Gruppendruck wurde es schliesslich möglich, dass ganz normale Männer und Frauen Volksgemeinschaftsfremde nicht nur ausgrenzten, sondern am Ende sogar eigenhändig umbrachten29.
Barbara Sommer Häller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der PH Luzern und beschäftigt sich schwerpunktmässig mit dem Unterricht zum Thema Holocaust, mit der politischen Bildung und dem Lernen an ausserschulischen Lernorten.
Im Unterricht über die NS-Verbrechen und insbesondere den Holocaust stehen seit Längerem die Opfer im Zentrum. Über die Fokussierung auf die Opfer kann aber die in der Schule immer wieder gestellte Frage : « Wie konnte es so weit kommen ? », nicht beantwortet werden. Dies kann nur über den Einbezug der Täterperspektive geschehen. Es ist daher wichtig, dass wir im Unterricht den Blick vermehrt auf die Täterschaft richten. Vorliegender Artikel macht einen Vorschlag, wie die Täterperspektive im Unterricht thematisiert werden kann.